Drei Schlaglichter auf das Verhältnis von Faschismus und Anarchismus Bandiera Nera

Politik

Es besteht eine unheimliche Verwandtschaft zwischen Anarchismus und Faschismus. Als zwei der radikalsten Strömungen moderner politischer Philosophie stellen sie einerseits unversöhnliche ideologische Gegensätze dar, andererseits lassen sich die personellen Überschneidungen und Kontakte kaum ignorieren, die die Geschichte beider Bewegungen prägten und sich auch auf in der Theoriebildung niederschlugen.

»Genosse Bakunin« erfreute sich reger Beliebtheit während des »kurzen Sommers der Anarchie« im revolutionären Spanien 1936
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»Genosse Bakunin« erfreute sich reger Beliebtheit während des »kurzen Sommers der Anarchie« im revolutionären Spanien 1936 Foto: 1937. Nadar (PD)

24. Oktober 2016
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Die Lehre von der totalen Freiheit von Herrschaft und die Ideologie der totalen Freiheit zu Herrschen sind einander oft näher, als man vermuten würde – und zugleich trennen sie stets Welten. Drei Schlaglichter sollen diese Umstände erhellen.

Schlaglicht I – Blumen für Sorel

»Wir Faschisten sind die einzig wahren Anarchisten«, erklärt Oberfaschist Fürst Blangis in Piere Paolo Pasolinis Salò oder die 120 Tage von Sodom (1975). Es ist eine Schlüsselszene, vielleicht die Schlüsselszene in diesem etwas langatmigen Film. Blangis und seine drei Kumpane, ein Bischof, der gleichzeitig Richter ist, ein Präsident und ein Mann, der als Bruder des Fürsten vorgestellt wird, gönnen sich bei Wein und Zigarren eine kleine Erholungspause von der von ihnen inszenierten Gewaltorgie und fachsimpeln über Philosophie.

Im Kontext des Films – er spielt hauptsächlich in einem Landhaus in Norditalien in der kurzlebigen »Republik Salò«, einem Marionettenregime, das nach dem Sturz Benito Mussolinis vom NS-Regime wieder eingesetzt wurde – bekommt der Satz eine eigene Bedeutung im Sinne einer tieferen Wahrheit über den italienischen Faschismus. Als Herrscher von Nazideutschlands Gnaden baut sich die Viererbande eine kleine (Alb-)Traumwelt aus Sadismus, Gewaltexzess und – zumindest nach den religiös und kulturell definierten Werten, für die der Faschismus nach Eigendefinition gestanden haben soll – sexueller Perversion. Die Bande erscheint weniger als moderne Reinkarnation des viril-männlichen Heldenmuts der frühen Cäsaren, als vielmehr als ein skurriles Hybrid aus Caligula, de Sade und Al Capone.

Die Opfer sind jugendliche Gefangene, von denen zumindest einige offensichtlich verhaftete AntifaschistInnen und RegimegegnerInnen sind. Die Faschisten legen ihren Opfern Hundeleinen an, lassen sie Kot essen, ziehen sich selbst Frauenkleider an und singen als vollendete Verhöhnung der, durch sexuelle Sklavendienste erniedrigten und gedemütigten Freiheitskämpfer die faschistische Hymne Bandiera Nera. Diese Hymne bezieht sich auf das schwarze Banner, das die Bewegung des ehemaligen Syndikalisten Mussolini, wie so manches andere, den AnarchistInnen abgekupfert hatte.

Mussolini entstammte, wie er stets stolz erklärte, selbst jener politischen Bewegung, die zu ihrer Kampfzeit stark von anarchistischem Gedankengut geprägt war – dem militanten Syndikalismus des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts. AnarchistInnen schlossen sich den Gewerkschaften an, in der Hoffnung sie zu Vehikeln der revolutionären Neugestaltung der Gesellschaft zu machen. Aus der Bewegung gingen sowohl die anarcho-syndikalistische Confederatión Nacional de Trabajo (CNT) hervor, die während des spanischen Bürgerkriegs versuchte, die soziale Revolution in Katalonien zu vollbringen, als auch auf Umwegen der italienische Faschismus.

In dem zusammen mit dem faschistischen Pädagogen und Staatsphilosophen, Giovanni Gentile, verfassten Essay La doctrina del fascismo beruft sich Mussolini auf den französischen Salonstrategen des Syndikalismus, Georges Sorel.[1]

Sorels Mythus-Theorie bildet gewissermassen den Nexus zwischen anarchistischer und faschistischer Theoriebildung. Es ist das Irrationale, der Glaube – im konkreten Fall der an das revolutionäre Potential kollektiver menschlicher Taten – das im Zentrum dieses Denkens steht. Bei Sorel ist es der fast schon als eschatologischer Erlösungsakt betrachtete »proletarische Generalstreik«[2], ein Gewaltakt, der im Gegensatz zum »politischen Generalstreik«[3] nicht die Durchsetzung einzelner Forderungen etwa nach Lohnerhöhung, sondern den Umsturz des gesamten politischen und gesellschaftlichen Systems zum Ziel hat.

Gänzlich neu war das nicht, Versatzstücke dieser Idee geisterten schon lange vor Sorel durch die anarchistische Szene des 19. Jahrhunderts. Aber Sorel war wohl der erste, der den Gedanken in dieser Radikalität formulierte. Obgleich selbst Marxist, richtete sich seine Theorie implizit auch gegen die in der Tradition von Marx und Engels stehende Idee, es bedürfe einer bestimmten Entwicklung der Produktivkräfte, damit es zur Revolution komme. Der richtige Moment für den Umsturz sei nicht materiell determiniert, sondern dann gekommen, wenn genug Menschen bereit seien, für die Idee im Ernstfall Gewalt einzusetzen oder zu sterben.

Die Bewunderung für diese Gedankengänge reichte über ideologische Grenzen hinweg ins radikallinke bis radikalrechte Lager. Der kritische Theoretiker Walter Benjamin zitiert Sorels Réflexions sur la violence (1908) ebenso wohlwollend wie der notorisch profaschistische frühe Carl Schmitt. Während Sorels linke LeserInnen mit der Lektüre vor allem ihre noch vorhandenen moralischen Skrupel vor der Anwendung entfesselter Gewalt entsorgten, die in Benjamins sophistischer Lesart gar keine mehr ist, sondern als »göttliche Gewalt«[4] eine Sonderrolle gegenüber der »rechtssetzenden« und »rechtserhaltenden« Gewalt des Staates bekommt, tauschten seine rechten Bewunderer den Mythus von der sozialen Revolution gegen den der nationalen aus. Die FaschistInnen betrachteten Sorel als jemanden, der noch auf der falschen, der sozialistischen Seite gestanden habe, dessen Mythus-Theorie aber zugleich den Schlüssel im Kampf um politische Macht darstelle.

In der Interpretation Carl Schmitts hat er als einziger die Bedeutung eines »aus der irrationalen Lebensenergie einer anonymen Masse« geborenen »heroischen Geist« erkannt.[5] Sorel starb im August 1922 nur wenige Jahre nach der russischen Oktoberrevolution und nur zwei Monate vor Mussolinis Marsch auf Rom. Einer Anekdote zufolge sollen sowohl Lenin als auch Mussolini Kränze zur Beerdigung geschickt haben. Dabei war die Bewunderung im Falle Mussolinis gegenseitig. Das Verhältnis zu Lenin war ambivalenter: Lenin bezeichnete Sorel zwar als politischen »Wirrkopf«[6], das aber hinderte wiederum Sorel nicht daran, nach seinem kurzen Flirt mit der rechtsradikalen Action française zu einem glühenden Verehrer der jungen Sowjetunion zu werden.

Mussolini sah seine faschistische Diktatur nicht nur als die Renaissance nationaler Grösse, sondern auch als Vollendung der »wahren« Ziele des Syndikalismus. Seine einstigen WeggefährtInnen, die AnarchistInnen und SozialistInnen, soweit sie nicht auch die Seiten gewechselt hatten, dürften dem wohl kaum zugestimmt haben. Die zentrale Idee des Anarchismus – die Ablehnung jeder Form staatlicher wie ideologischer Herrschaft und Bevormundung – kann zur Vorstellung von vollendeter Staatsvergottung und dem Hochhalten von Religion und kulturellem Erbe im Faschismus kaum gegensätzlicher sein. Und doch finden sich noch in Mussolinis korporatistischer Staatsvision Spuren syndikalistischer Ideen.

Die Korporationen, also die Interessengemeinschaften wirtschaftlicher Elemente der Gesellschaft, nahmen eine zentrale Rolle bei der Steuerung und Transformation der Gesellschaftsordnung ein. Diese lässt sich mit der Rolle, die von den revolutionären SyndikalistInnen den Gewerkschaften zugedacht war, vergleichen.

In Mussolinis Darstellung stellt der Faschismus die Perfektionierung der Ideen des Anarchismus und Sozialismus dar, die er lediglich um ihre inhärenten Selbstwidersprüche bereinigt habe. So könnte auch der eingangs zitierte Ausspruch des fiktiven Fürsten Blangis verstanden werden, den er noch mit dem Zusatz versieht: »Die einzig wahre Anarchie ist die der Macht.« Im Ziel einer Gesellschaft, die der »wahren Natur des Menschen« gerecht wird, ist man sich quasi einig. Auch wenn sichdie Idee davon, was diese Natur eigentlich sei, radikal voneinander unterscheidet. AnarchistInnen sind in den Augen der FaschistInnen naive Gutmenschen, die nicht verstanden haben, dass die natürliche Bestimmung des Menschen nicht die anvisierte Egalität, sondern die Ungleichheit ist.

Aber beim Antifaschisten Pasolini schwingt in der erwähnten Szene auch eine Kritik des Anarchismus mit. Tatsächlich passt der bei den besonders radikalen syndikalistischen und sozialrevolutionären AnarchistInnen verbreitete Glaube, Taten bedeuteten mehr als Worte, gerade nicht zur Vorstellung jener herrschaftsfreien Gesellschaft, die sie angeblich zum Ziel haben. Herrschaftsfreiheit lässt sich, wenn überhaupt, nur kommunikativ und deliberativ herstellen. Der im Anarchismus verbreitete Kult der Tat sowie der Hang zu Antiintellektualismus und Theoriefeindlichkeit wirken der Vorstellung einer herrschaftsfreien Gesellschaft entgegen und fördern einen avantgardistischen Gewaltfetisch.

Obendrein plädierten jene AnarchistInnen, die der Idee der Propaganda der Tat anhingen, dafür sich zum Erreichen politischer Ziele genau jener krimineller und gewaltaffiner VertreterInnen des Lumpenproletariats zu bedienen, die meist die Fusstruppen des Faschismus stellen. In einer zynischen Variante des Gedankens, dass es kein richtiges Leben im Falschen geben könne, sei es eben legitim mit verwerflichen Mitteln oder zweifelhaften Verbündeten gegen die falsche Ordnung vorzugehen. Was in einer guten Gesellschaftsordnung richtig und falsch sei, könne ja genau genommen auch erst erkannt werden, wenn sie bestehe. Von solchem Utopismus nahm Mussolini gleich ganz Abstand. Er bejahte die Gewaltphilosophie, die bei den AnarchistInnen stets drohte das eigene Projekt von innen zu zerstören, und erhob das Prinzip zur raison d'état.

Schlaglicht II – Glaubenskrieg der Gottlosen

Es ist nicht besonders erstaunlich, dass der Anarchismus historisch besonders in katholischen oder christlich-orthodox geprägten Gesellschaften, wie Italien, Spanien, Mexiko oder im zaristischen Russland, starke Wurzeln schlug. In jenen Gesellschaften, in denen sich die protestantische Reformation und der Puritanismus nicht durchsetzen konnten, also anders als in den Niederlanden, England oder erheblichen Teilen Deutschlands, erfüllt der Anarchismus eine ähnliche Funktion als Gegenprojekt zum gesellschaftlichen Status quo. Doch als Produkt seiner Zeit trat er als ein gänzlich säkularisierter Protestantismus auf.

Das individualistische, antiautoritäre und antiklerikale Programm, das der Berufsrevolutionär Michael Bakunin in Gott und der Staat (1882) niederschrieb, spricht eher die Bedürfnisse antiautoritärer RebellInnen in einer autoritären und vorsäkularen Gesellschaft an. In vollendeten bürgerlichen Demokratien, die in Ansätzen, wenn auch selten vollständig, die Feinde, gegen die Bakunin wettert (Staat und Kirche), zähmten und ihren offen repressiven Zugriff einschränkten, fand das Programm weniger Anklang.

Daher erfreute sich »Genosse Bakunin« auch reger Beliebtheit während des »kurzen Sommers der Anarchie« im revolutionären Spanien 1936/1937, als der Versuch einer realen Umsetzung seiner Vorstellungen unternommen wurde. Die puritanischen Züge dieser Umsetzung äusserten sich in der Ablehnung von Prostitution, Alkohol- und Tabakkonsum und der Substitution der Institution Ehe durch eine »freie Union«, aber auch in dem an protestantische Arbeitsethik erinnernden Ideal selbstloser Tüchtigkeit und Bescheidenheit.[7]

Dies hatte Bakunin schon gegen Ende seines Lebens gefordert, währenddessen er auf jeder Barrikade, die zwischen Paris, Breslau, Dresden und Bologna errichtet wurde, gekämpft und Umsturzbewegungen aus dem Nichts zu erschaffen verstanden hatte – wo sie freilich auch meist wieder endeten. In Gott und der Staat entwickelt er seine Weltanschauung vollkommen bewusst als einen atheistisch-materialistischen Protestantismus. Dort findet sich die puritanisch anmutende Forderung nicht nur »alle Kirchen«, sondern auch »alle Schenken«, jene Orte, »körperlicher und geistiger Ausschweifung«[8] zu schliessen. Bakunin kennt auf alle Missstände nur eine Antwort: die »soziale Revolution«[9]. Er kämpft für sie wie die frühen ProtestantInnen für die Heilserwartung der Wiederkehr Christi.

Die puritanische Schlichtheit des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch, die keine zwischengeschaltete Autorität einer institutionalisierten Priesterkaste akzeptiert, übertrug Bakunin auf seine materialistische Weltanschauung. An die Stelle Gottes tritt bei ihm als oberste Autorität das »Wissen«, das sich dem Menschen nie in Gänze erschliesse; auch hier ist die Parallele zu monotheistischen Gottesvorstellungen evident. Das Wissen ist die einzige Form von Autorität, die er gelten lassen will, wenn auch nur in ihrer unmittelbaren Vermitteltheit. Die Wissenschaft bezeichnet Bakunin daher als seinen »unsichtbaren Christus« und postuliert: »Wie Protestanten, selbst konsequenter als Protestanten, wollen wir [in der Wissenschaft] weder Papst noch Konzile noch Konklaves unfehlbarer Kardinäle noch Bischöfe und selbst keine Priester dulden.«[10]

Die Wissenschaftler, eine deutliche Invektive gegen Marx, Engels und die »doktrinäre Schule des deutschen Kommunismus«[11], dürften sich nicht zu den Hohepriestern einer unfehlbaren Wahrheit aufschwingen. Die Wissenden sollen sich stets als Freie und Gleiche in der bescheidenen, wie selbstbewussten Einsicht begegnen, dass ihr Wissen nie vollkommen sein kann, genau wie im Protestantismus keinem Papst das Monopol auf die unfehlbare Interpretation des himmlischen Willens zukommen darf.

Der Faschismus entstand hingegen als Antwort auf die Krise des Konservativismus feudaler und klerikaler Provenienz, der selbst weder auf die Ideen des Liberalismus, noch auf die Herausforderung der neuen proletarischen Bewegungen adäquate Antworten zu liefern vermochte. Insofern entwickelte Carl Schmitt, als typischer faschistischer bricoleur aus konservativem und revolutionärem Gedankengut seine politischen Ideen in bewusster Abgrenzung zu den Ideen Bakunins, der durch Schmitts Schriften der 1920er Jahre als Schreckgespenst und aufgebauschter Pappkamerad einer slawischen-bolschewistischen Bedrohung geistert. Schmitt nahm die politische Theologie Bakunins ernst und stellte ihr das Konzept eines reaktionär-revolutionären Hybrids entgegen. Dessen »politische Form« entnahm er der katholischen Kirche, die er als Katholik gut kannte.

Es lag für ihn daher auch biographisch nahe, dass der Anarchismus nur jenes Werk der Zersetzung der als organische Einheit verstandenen christlichen Ordnung fortsetze, das mit der Reformation und der Religionsfreiheit angefangen und in Atheismus und Anarchismus seine Vollendung gefunden habe. Damit die Kräfte der Anarchie die Ordnung nicht vollständig zerstören, bedürfe es eines Aufhalters, eines »Katechons«, wie in der Theologie des Mittelalters die katholische Kirche bezeichnet wurde, deren Präsenz das Kommen des jüngsten Gerichts verhindern und somit die Gnadenfrist auf Erden verlängern würde.

Schmitt stellte sich zwar in die Tradition der konservativen Gegenrevolution des 19. Jahrhunderts, gleichzeitig erkannte er aber an, dass Bakunin und Sorel die Zeichen der Zeit besser verstanden und so den angemesseneren Zugang zur historischen Wahrheit hätten. Also fusionierte er ihre Strategie mit dem konservativen Gedankengut zu einem revolutionären Konservatismus, als den er den »römischen Katholizismus«, in deutlicher Anspielung auf Mussolini als Erbe des antiken römischen Reiches, betrachtete.

Als »die beiden eigentlichen Gegner«[12] in einem globalen Krieg der Ideen stünden sich, so Schmitt, zwei Philosophien gegenüber: auf der einen Seite der Anarcho-Individualismus Proudhons und auf der anderen der atheistische Katholizismus Donoso Cortés'. Cortés war dabei nur einer der von Schmitt gern zitierten gegenrevolutionären Don Quixotes des 19. Jahrhunderts, die mit dem ideologischen Rüstzeug des Mittelalters gegen die Windmühlen einer neuen Zeit anrannten. Cortés war im globalen Revolutionsjahr 1848, als Bakunin gemeinsam mit Richard Wagner auf den Dresdener Barrikaden für die Republik kämpfte, spanischer Gesandter in Berlin. Er war so beseelt vom Geist der Gegenreformation, dass ihm selbst Jesus als subversiver Aufwiegler und Humanist suspekt war. Seine Philosophie war, wie Schmitt argumentiert, äquivalent zum Denken des Grossinquisitors, der in einer Nebenerzählung von Dostojewskis Die Brüder Karamasow (1880) den ins Spanien der Inquisitionszeit wiederkehrenden Jesus einsperren lässt und mit dem Scheiterhaufen droht. Seine Anwesenheit gefährde die über mehr als ein Jahrtausend mühsam errichtete heilige Ordnung der Kirche.

In Schmitts Darstellung glaubt Cortés in Wahrheit gar nicht mehr an die durch moderne Wissenschaft und Aufklärung desavouierte göttliche Ordnung. In diesem Aspekt sei Cortés nicht minder antichristlich als sein ideeller Erzfeind Bakunin. Cortés klammere sich wie ein Ertrinkender an die Chimäre einer übernatürlichen Legitimation – davon überzeugt, dass allein der Glaube an diese Chimäre das Fundament des Bollwerks ist, das die entfesselten Kräfte der Anarchie aufhalten kann.

Der Faschismus des 20. Jahrhunderts hatte die Verzweiflung des Gegenrevolutionärs Cortés längst hinter sich gelassen, indem er selbst revolutionär wurde. Er hatte sich eines Kernkonzepts des revolutionären Bürgertums bemächtigt und radikal umgedeutet: des Begriffs der Nation. Die faschistische Revolution richtete sich zwar ganz real gegen den parlamentarischen Staat des Bürgertums, den auch die AnarchistInnen bekämpfen, aber auf der Ebene der Ideen diente ihm der Anarchismus nicht nur als wichtiger Stichwortgeber, sondern auch als Negativvorlage – als »wahrer Feind«, anhand dessen die eigene Position erst theoretisierbar wurde.

Schlaglicht III – Politik der Rache

Historisch haben sich militante anarchistische wie faschistische Gruppierungen immer wieder als RächerInnen des Volkes, bzw. VollstreckerInnen des gerechten Volkszorns inszeniert. Ansatzweise anarchistisch inspirierte, sozialrevolutionäre Untergrundorganisationen im Russland des späten 19. Jahrhunderts gaben sich Namen wie Narodnaja Rasprava (»Volksrache«) oder Narodnaja Wolja (»Volkswille«). Mit Attentaten auf RepräsentantInnen des Staates, bzw. den Zaren selbst, wollten sie das zaristische Regime schwächen, in der Hoffnung damit die Bedingungen für eine allgemeine Revolution buchstäblich herbei zu bomben. Diese Gruppierungen standen am Anfang eines Trends zu bewaffneten sozialrevolutionärer Zellen. Während der unruhigen Jahre zwischen 1901 und 1917 steigerte sich diese Entwicklung zu ganzen Wellen terroristischer Attentate, auf deren Konto 17.000 Tote und Verwundete gegangen sein sollen.[13]

Der wichtigste Vordenker dieser »linken« Politik der Rache war der Gründer der Narodnaja Rasprava, Sergei Netschajew. Als politischer Aktivist und Anführer war Netschajew nicht sonderlich erfolgreich. Seine kurze, irrwitzige Politkarriere endete 1872 in Russland in Festungshaft, wo er zehn Jahre später jämmerlich starb. In den vier Jahren seines Aktivismus schaffte er es, mit einer Mischung aus Betrug, Erpressung und einem Mord an einem vermeintlichen Aussteiger, die Bewegung in Russland und die russisch-anarchistische Exilopposition in der Schweiz ordentlich in Misskredit zu bringen. Vor allem der alternde Bakunin unterstütze den charismatischen Hochstapler zunächst bei seinem ersten Aufenthalt in Genf. Netschajew hatte dort faktenwidrig behauptet, aus der sibirischen Verbannung geflüchtet zu sein, nachdem er in Russland eine straff geführte Geheimorganisation aufgebaut habe.

Netschajew hinterliess als Vermächtnis einen Revolutionären Katechismus (1869), den er noch gemeinsam mit Bakunin verfasst haben soll – später distanzierten sich seine UnterstützerInnen im Exil fast einhellig von ihm. Der Katechismus stellt die Blaupause für eine sektenhaft strukturierte Untergrundpartei dar, unter ausdrücklichem Verzicht auf jegliche moralischen Skrupel – als »moralisch« galt nur »was zum Sieg der Revolution führt«[14] – zur Durchsetzung der politischen Ziele. Diese wurden nur vage skizziert: völlige Zerstörung »staatlicher Traditionen, Strukturen und Klassen« sowie »das Glück des narod, das heisst des werktätigen Volkes«[15]. Die Vorstellung des »werktätigen Volkes« orientiert sich deutlich an den Jakobinern, deren Gedankenwelt Netschajew in vieler Hinsicht näher stand als der seines Förderers Bakunin. Worin genau das Glück des Volkes bestehe, wird nicht ausgeführt.

Erstaunlich ist, dass ausgerechnet Bakunin, der Marx und Engels gern diktatorische Allüren vorwarf, einem derart zentralistischen konspirativen Programm, wie es Netschajew in seinem Katechismus entwarf, seine Unterstützung zusagte. Es beinhaltete ein System hierarchisch aufeinander aufbauender Zellen, an deren Spitze ein »revolutionäres Komitee« stehen sollte. Während in Wirklichkeit zunächst weder das Komitee noch irgendwelche Zellen existierten, begann Netschajew nach seiner Rückkehr aus der Schweiz AnhängerInnen für die »Organisation« zu werben und als die ersten tatsächlich existierenden terroristischen Zellen zu organisieren. So wurde Netschajew zum faktischen Anführer einiger weniger, zum Äussersten bereiter Personen, die er im Glauben liess, zu einer riesigen konspirativen Organisation zu gehören.

Die Organisationsform lässt vom autoritären Prinzip des »demokratischen Zentralismus« späterer kommunistischer Kaderparteien weit mehr erahnen als die eher vage Vorstellung von der »Diktatur des Proletariats« im Manifest der kommunistischen Partei (1848). Bezeichnenderweise sollen die Schriften eines der wenigen Anhänger Netaschjews, der nach der Zerschlagung der Narodnaja Rasprava noch eine Karriere als Theoretiker des revolutionären Terrorismus machte, Petr Tkatschow, erheblichen Einfluss auf Lenin, dem Erfinder des demokratischen Zentralismus, gehabt haben. Mit einiger Berechtigung lässt sich argumentieren, dass sich Lenin, trotz seiner Anfeindungen gegen den Anarchismus als »Kinderkrankheit des Kommunismus«[16] in vielerlei Hinsicht von dessen finsterster politischer Verirrung mehr beeinflusst war, als er je zugab.

Lenins Organisation war aber im Gegensatz zu der Netschajews gänzlich real – er legitimierte sie auch nicht mit dem mythisch-»vorrechtlichen« Prinzip der Rache[17], sondern vermittels modernistischer Parolen (»Sowjetmacht und Elektrifizierung«). Das Motiv einer Politik der Rache durchzieht hingegen die Geschichte des modernen deutschen Rechtsterrorismus von ihren Anfängen über ihren grotesken Höhepunkt in der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bis heute. Ob es sich hierbei um »genuinen Faschismus« handelt oder um eine deutsche Besonderheit, ist eine nicht minder akademische Debatte wie die, ob Netschajew noch dem Anarchismus zuzurechnen ist oder nicht. Die historischen Verstrickungen sind in beiden Fällen evident.

Die Trajektorie »rechter« Rachepolitik in Deutschland beginnt mit den Morden an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Bereits hier ist Rache ein nicht zu verkennendes Motiv, doch die Tat lässt sich noch ebenso gut aus der tumultartigen politischen Situation erklären – als extralegale Hinrichtung gefährlicher politischer GegnerInnen. Rache für den revolutionären »Dolchstoss« in den Rücken der angeblich im Felde unbesiegten deutschen Truppen bzw. für Versailles rückt neben dem Antisemitismus hingegen schon am, von der Organisation Consul verübten, Mord an Walther Rathenau deutlich in den Vordergrund der Motivlage.

Die rechte Politik der Rache kulminiert in Hitlers Vorstellung von der Vollstreckung des »gerechten Volkszorns« als Pendant zum »gesunden Volksempfinden«. Die »Vernichtung des europäischen Judentums« imaginierte er in seiner vielzitierten »Prophezeiung« vom 30. Januar 1942 als eine Art von Vergeltungsmassnahe im Sinne von »Aug um Aug, Zahn um Zahn«.[18]

Während es bekanntlich auch unter den AnarchistInnen vereinzelt recht rabiate AntisemitInnen gegeben hat, konnte eine derart toxische Vermengung der Politik der Rache mit eugenischen, rassistischen und antisemitischen Motiven im Anarchismus nicht ansatzweise eine solche Wirkungsmacht entfalten wie in der deutschen Variante des Faschismus.

Schlussbemerkung

Der Anarchismus der Gegenwart sieht sich zweifelsohne weitgehend in der antifaschistischen Tradition des spanischen Anarchosyndikalismus, der im Bürgerkrieg 1936-1939 eine zentrale Rolle im Kampf fortschrittlicher Kräfte gegen Franco und seine Verbündeten einnahm. Hier manifestierten sich vor allem die Unversöhnbarkeit der beiden Weltanschauungen (siehe Schlaglicht II). Doch gänzlich zufällig ist die Tatsache, dass auf beiden Seiten KombattantInnen unter der schwarzen Fahne kämpften, wie sich gezeigt hat, auch nicht. Die Tendenz im Anarchismus zu einem irrationalistischen Kult der Tat und die Selbstinszenierung mancher seiner ProtagonistInnen als RächerInnen des Volkes machen ihn dem Faschismus manchmal ähnlicher, als seine AnhängerInnen bereit sind zuzugeben.

Carl Melchers
Artikel aus: Phase 2 / Ausgabe Nr. 50
www.phase-zwei.org

Fussnoten:

[1] Benito Mussolini, La Doctrina Del Fascismo, Firenzo 1937, 6.

[2] Georges Sorel, Über die Gewalt, Innsbruck 1928, 132f.

[3] Ebd., 176f.

[4] Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt a.M. 1978.

[5] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1996, 84.

[6] Klaus Grosse Kracht, Georges Sorel und der Mythos der Gewalt, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 5 (2008), 166–171, hier 166.

[7] Burnett Bolloten, The Spanish Civil War: Revolution and Counterrevolution, Chapel Hill 1991, 68f.

[8] Michail A. Bakunin, Gott und der Staat und andere Schriften. Texte des Sozialismus und Anarchismus, Reinbek bei Hamburg 1969, 63.

[9] Ebd., 69.

[10] Ebd., 79.

[11] Ebd., 99.

[12] Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 83.

[13] Anna Greifman, The Anarchists and ›Obscure Extremists‹, in Russia Under the Last Tsar: Opposition and Subversion, 1894-1917, Malden 1999, 94.

[14] Zit. nach Philip Pomper, Sergei Nechaev, New Brunswick 1979, 91.

[15] Ebd., 93f.

[16] Wladimir. I. Lenin, Lenin Werke, Band 31, Berlin 1959, 5f.

[17] Vgl. Christoph Menke, Recht und Gewalt: Kleine Edition 4. Ko?ln 2012, 13–57.

[18] Zit. nach Ian Kershaw, Hitler, 1936-1945, Stuttgart 2000, 615.